Was es bedeutet, Eltern eines Kindes mit Asperger-Syndrom zu sein 

(von Dagmar Elsenbast)

 

Die Gesellschaft, in der wir leben, lässt sich mit einem großen Schrank vergleichen, in dem alle Menschen aufbewahrt werden. Dieser Schrank hat zwei große Schubladen und viele kleine. In der einen großen Schublade sind alle Kinder und in der anderen alle Normalos. In den vielen kleinen Schubladen sind all die Menschen einsortiert, die nicht in die Normalo-Schublade passen, weil sie die Kriterien dafür nicht oder nur unzureichend erfüllen. Jede der kleinen Schubladen ist genau beschriftet, damit man weiß, was in der Schublade ist bzw. in welche Schublade ein Mensch gehört. Die Schlüssel zu der großen Normalo-Schubladen und den vielen kleinen Schubladen haben nur ausgesuchte Fachleute, die sich mit dem Inhalt besonders gut auskennen. Sie öffnen die Schublade, um jemanden hineinzulassen oder sich mit dem Inhalt zu befassen, selten aber, um jemanden herauszulassen, weil sich rausstellt, dass er doch nicht in die Schublade passt, denn dann müssten die Fachleute ja zugeben, dass sie sich beim Hineinlassen geirrt haben. Das hört sich alles sehr geordnet an, gäbe es da nicht ständig Probleme mit der Kinder-Schublade, denn die hat kein Schloss, ist viel zu klein und dauernd klettern welche raus, bevor sie erwachsen sind. Um diesem Chaos Herr zu wer-den, sichten die Fachleute in regelmäßigen Abständen die Kinder-Schublade und nehmen alle die mit, die in ihre spezielle Schublade passen. Das schafft Platz und die Kinder-Schublade quillt nicht mehr über. Außerdem sind die aussortierten Kinder doch in den kleinen Schubladen viel besser aufgehoben und versorgt. Jeder hat ein gutes Gefühl, die Fachleute, weil sie ihre Arbeit gemacht haben und die Eltern, weil ihr Kind, genau wie sie selbst, einen Platz in dem Schrank bekommen hat.

 

 

Und die Kinder? Kinder entwickeln und verändern sich. Was ist, wenn die Fachleute sich geirrt haben? Die werden ihr eigenes Urteil nur äußerst ungern überprüfen und lassen so schnell auch keinen mehr aus ihrer Schublade heraus. Wie kommt das Kind dann an den Platz im Schrank, an den es wirklich gehört?

 

  

Eltern sind erwachsene Menschen, die den Platz in dem großen Schrank haben, den sie im Laufe ihres Lebens gefunden, eingenommen und gefestigt haben. Vorzugsweise ist dieser Platz in der Normalo-Schublade, denn da ist das wahre Leben. Um in diese Schublade zu kommen, muss man normal sein und um in ihr einen komfortablen Platz (Status) zu haben bzw. überhaupt darin zu bleiben, muss man sich bemühen, den hier geltenden Normen entsprechen. Auch das Eltern-Sein unterliegt Normen und wird bewertet (gute Eltern - schlechte Eltern) und wie gut man diese Aufgabe bewältigt, wird an den Kindern gemessen. D. h. entspricht das Kind nicht den Normen (ist nicht normal) leidet das Ansehen (der Status) der Eltern. Diesem Ansehensverlust können Eltern nur entgegenwirken, wenn sie sich so verhalten, wie man es von Normalos erwartet.

 

Erwartet wird, dass man:

 

1.      für sein Kind nur das Beste will

2.      sich da, wo man nicht weiterweiß, Hilfe von Fachleuten holt, die wissen      

         welcher Schublade das Kind zuzuordnen ist

3.      den Rat der Fachleute nicht hinterfragt, sondern befolgt, weil die wissen

         a.      was das Beste für das Kind ist (in welcher Schublade sein Platz ist)

         b.      wie sich die Eltern richtig verhalten sollen (die Zuweisung zu dieser  

                 Schublade und alle sich daraus ergebenden Konsequenzen für das Kind

                 akzeptieren)

 

 

Eltern, die sich daran halten, haben selbst keinen Ansehensverlust zu befürchten. Schwierig wird es, wenn Eltern, die ihr Kind selbst am besten kennen, feststellen müssen, dass sich die Fachleute geirrt haben oder ihr Urteil durch neue Entwicklungen revidiert werden muss.

 

  

Dann müssen Eltern sich entscheiden 

 

- für den Erhalt des eigenen Ansehens (Status) und Platzes in der Normalo-

  Schublade und für eine evtl. unangemessene Zuweisung ihres Kindes zu einer  

  Schublade, aus der es kein entrinnen gibt

 

 

oder

 

-  für einen Schaden am eigenen Ansehen (Zuweisung zur Querulanten-Abteilung in  

   der Normalo-Schublade mit einhergehendem Statusverlust) und für die Chance  

   ihres Kindes auf einen ihm tatsächlich angemessenen  Platz in einer der  

   Schubladen des Schrankes.

 

Sich für die erste Möglichkeit zu entscheiden ist bequem und kostet wenig Kraft (der Weg des geringsten Widerstands). Die zweite Möglichkeit ist unbequem, kostet sehr viel Kraft und braucht Durchhaltevermögen. Es braucht innere Stärke, mit dem Schaden am eigenen Ansehen umzugehen und es braucht Größe, sich selbstlos zum Anwalt seines Kindes zu machen.

  

Menschen mit Asperger-Syndrom stellen in unserem schubladierenden Gesell-schaftssystem eine Besonderheit dar. Sie sind darauf angewiesen, sich in der Normalo-Schublade zu bewegen, denn nur so können sie sich ihre ausgeprägte Fähigkeit zur Anpassung zunutze machen. Werden sie in eine eigene Schublade eingeordnet, können sie das nicht.

 

 

AS ist erblich, also gab es auch in den vorherigen Generationen Menschen, die davon betroffen waren. In den seltensten Fällen fielen sie so deutlich auf, dass sie gezwungen waren, ein Leben am Rande oder gar außerhalb der Gesellschaft zu führen. In der Regel waren sie in der Lage, sich den Erfordernissen der Gesellschaft anzupassen und so nicht aufzufallen.

 

In der heutigen Zeit ist man bemüht, frühzeitig (also schon im Kindesalter) zu erkennen, wenn ein Individuum von den Normen unserer Gesellschaft abweicht. Es gibt heutzutage nicht mehr Menschen mit Asperger-Syndrom, aber es werden mehr erkannt, weil man nach ihnen sucht. Das Erkennen zieht zwangsläufig eine Zuordnung zur Asperger-Schublade nach sich. Es gibt viele Fachleute, die die Schlüsselgewalt über die Asperger-Schublade haben, aber nur sehr wenige, die sich mit dem Inhalt der Schublade wirklich auskennen und sie deshalb immer ei-nen breiten Spalt offen lassen, damit der Kontakt zur Normalo-Schublade erhalten bleibt. Das ist von den Normalos nicht gewollt, denn dann herrscht Unordnung im Schrank.

  

Wenn Eltern wollen, dass ihr Kind den Kontakt zur Normalo-Gesellschaft nicht verliert und lernen kann, sich an diese anzupassen und Teil von ihr zu werden, müssen sie sich gegen Fachleute und Normalos behaupten und ihre Kräfte mit ihnen messen.

  

 

Dieses Kräftemessen beginnt manchmal schon sehr früh.

  

Die Befunde der Vorsorgeuntersuchungen beim Kinderarzt sind in der Regel noch unauffällig. Ein nicht zurücklächelndes Kind, das evtl. die Krabbelphase übergangen und gleich zu laufen begonnen hat, gibt keinen Anlass zur Besorgnis. Ein erstes Merkmal, dass das Kind anders als andere ist, kann das Sprachverhalten sein. Sprache/Kommunikation ist soziale Interaktion. In der Familie fällt ein Kind, das wenig (man versteht sich ohne viel Worte) oder viel (das Kind ist aufgeweckt) spricht, nicht auf. Spätestens im Kindergarten ist das anders. Da die Viel-Sprecher in der Regel im Kindergarten ob der vielen neuen sozialen Anforderungen mit Rückzug und Verstummen reagieren und die Wenig-Sprecher noch weniger sprechen, wird den Eltern meist schon sehr früh empfohlen, die Hilfe eines Logopäden in Anspruch zu nehmen.

 

 

Da diese Empfehlung von Personen (Erziehern) kommt, die wesentlich mehr Erfahrungen und somit Vergleichsmöglichkeiten als die Eltern selbst haben, vertrauen die Eltern deren Urteil, soweit sie nicht extrem abweichende eigene Erfahrungen haben. Weil sie für ihr Kind nur das Beste wollen (s.o.), werden sich die Eltern der Wenig-Sprecher also vertrauensvoll in die Hände einer Fachkraft für Logopädie begeben. Das ist auch in der Regel, was die Sprachkompetenz anbetrifft, von Erfolg gekrönt, aber kaum, was den Sprachgebrauch anbetrifft. In den meisten Fällen ist aber zu beobachten, dass die Sprachkompetenz sich nicht langsam und Schritt für Schritt einstellt, sondern plötzlich, dann aber auch altersgemäß, einfach da ist. Das lässt den Schluss zu, dass diese Kinder zwar durchaus in der Lage waren, Sprache zu verstehen und anzuwenden, jedoch davon als Mittel im sozialen Umgang keinen Gebrauch gemacht haben. Erst, wenn sie Sprache als eigenes Ausdrucksmittel angenommen/erkannt haben, setzen sie sie ein. Der scheinbare Erfolg der Logopädie bestätigt jedoch, dass man als Eltern richtig gehandelt hat, indem man dem Rat der Fachleute gefolgt ist.

 

 

Andere Erfahrungen machen hingegen die Eltern der verstummten Viel-Sprecher. Die wenigsten werden ihr Kind in logopädische Behandlung geben, weil sie wissen, dass ihr Kind sprechen kann (extrem abweichende Erfahrungen). Bei denen, die ihnen den Rat gegeben haben, werden sie nur Kopfschütteln ernten, denn die sehen in ihnen Eltern, die ihrem Kind mit ihrer Verweigerungshaltung schaden. Widerspruch kommt in der Gesellschaft nicht gut an. Man gilt schnell als uneinsichtig, widerspenstig und unbequem und wird dem Querulanten-Fach zugeordnet.

 

 

In der Regel wird dann von den Erziehern versucht, die Aufgaben zu übernehmen, zu denen die Eltern anscheinend nicht in der Lage bzw. willens sind. Bei den ver-tummten Viel-Sprechern bedeutet dies, man versucht das Kind zum Sprechen zu bringen. Das zwingt ein von AS be-troffenes Kind in einer fremden Umgebung mit fremden Menschen in sozial/kommunikative Situationen, die es nicht bewältigen kann. Das kann zu völligem Rückzug führen oder, wenn das Kind dazu keine Möglichkeit hat, zu Abwehrverhalten in Form von Aggression oder Auto-Aggression. Bei Mädchen wird Rückzug eher akzeptiert, als bei Jungen, nicht nur von den Kindergärtnerinnen sondern auch von den anderen Kindern. Kinder in diesem Alter zeigen bereits geschlechtsspezifisch unterschiedliches Sozialverhalten.

 

  

Auch der Wenig-Sprecher, der unter der Logopädie zu sprechen beginnt, wird nach wie vor soziale Interaktion vermeiden, also verhaltensauffällig sein und damit eine Herausforderung für die Erzieherinnen darstellen, evtl. mit den oben genannten Konsequenzen.

 

 

An diesem Punkt kommt häufig auch Druck durch die Eltern der anderen Kinder hinzu. Jeder möchte für sein Kind das Beste, möchte, dass es alle Chancen hat, im Leben erfolgreich zu sein. Spätestens im Kindergarten beginnen Eltern in Konkurrenz zueinander zu treten. Je „besser“ ihr Kind ist, umso „bessere“ Eltern sind sie. Wird ihr Kind durch ein anderes Kind in seinen Entfaltungsmöglichkeiten eingeschränkt, weil sich die Erzieherinnen besonders intensiv um dieses andere Kind kümmern, müssen „gute“ Eltern zum Wohl ihres eigenen Kindes einschreiten. Häufig unterstellt man dann in erster Linie den Eltern des auffälligen Kindes, in der Erziehung Fehler gemacht zu haben und appelliert an ihr Gewissen, dass doch nicht andere darunter leiden dürfen, dass die Erzieherinnen Zeit aufwenden müssen (die ihrem Kind abgeht), um diese Erziehungsfehler auszubügeln. Auch die Erzieherinnen werden den Druck der anderen Eltern zu spüren bekommen. Sie raten dann den Eltern des auffälligen Kindes, sich professionelle Hilfe zu suchen, die dafür sorgt, dass das Kind zukünftig unauffällig im regulären Betrieb „mitlaufen“ kann, ohne die anderen zu stören. Kann diese Störung nicht behoben werden, wird sehr schnell deutlich gemacht, dass es für alle Beteiligten das Beste wäre, das auffällige Kind in einer anderen Einrichtung unterzubringen. Kind weg -> Störung weg -> Druck weg -> Problem (für die anderen) behoben.

 

Spätestens jetzt laufen Eltern Gefahr, sich selbst unter Druck zu setzen und in die Schuld-Falle zu tappen. Verantwortlich für ein Kind zu sein heißt nicht automatisch Schuld daran zu sein, dass ein Kind so ist, wie es ist oder sich so entwickelt, wie es sich entwickelt. Bei einem Kind mit Behinderung haben die Eltern keine Schuld an der Behinderung oder dem daraus re-sultierenden Verhalten. Sich selbst als schuldig zu empfinden, wo es keine Schuld gibt, kann lebensbestimmend für Eltern und Kind werden und zu einer ständig größer werdenden Last. Wer in die Schuld-Falle gerät, wird auf Dauer nicht nur sein eigenes Selbstwertgefühl, sondern auch die Wertigkeit seines Kindes in Zweifel ziehen.

  

 

Häufig schon in der eigenen Familie, im Freundes- und Bekanntenkreis, im Kinder-garten und in der Schule werden Eltern zu den Schuldigen für das besondere Verhalten ihrer Kinder erklärt, weil das viel einfacher ist, als sich mit möglichen anderen Ursachen auseinanderzuset-zen. Geben die Eltern diesem gesellschaft-lichen Druck nach und „ziehen sich diesen Schuh an“, sind sie schon in die Schuld-Falle getappt. Es trifft dabei häufiger die Mütter als die Väter, denn viele Väter entziehen sich der Schuldzuweisung dadurch, dass sie für sich feststellen, dass die Mütter den Hauptanteil an der Erziehung haben. Nicht selten führt das zu Konflikten zwischen Mutter und Vater und einer zusätzlichen Belastung für die Mutter.

 

Eltern tragen unzweifelhaft Verantwortung für ihr Kind. D. h. sie sind u. a. dafür verantwortlich, nach den Ursachen für das von der Norm abweichende Verhalten ihres Kindes zu suchen. Schuld tragen sie nur, wenn sie dieser Verantwortung nicht nachkommen.

 

Die Suche nach der Diagnose ist der wichtigste Schritt überhaupt.

 

 

Zu wissen, dass das Kind anders ist als andere, aber nicht zu wissen warum und ob und was man als Eltern für sein Kind tun kann, ist ein kaum zu ertragender Zustand. Der einzige Weg aus diesem Zustand heraus führt über die Klärung des „Warum“ und „Wie“, d. h. über die Diagnose und die daraus resultierenden Konsequenzen.

 

 

Dass es so etwas wie das Asperger-Syndrom gibt, wird immer bekannter. In Fachkreisen (Psychologie und Neurologie) befassen sich einzelne Forscher seit ca. 20 Jahren intensiver damit und geben ihre Erkenntnisse an ihre Kollegen weiter. Heutzutage hat ein Student der Fachrichtung Psychologie im Allgemeinen im Laufe seines Studiums schon einmal davon gehört, mehr aber auch nicht! Es gibt Testverfahren, die es auch dem wenig mit AS Vertrauten erlauben, eine relativ gesicherte Diagnose zu stellen und somit das „Warum“ zu klären. Das „Kind hat nun einen Namen“, aber es bleibt immer noch die Frage offen, wie man damit umgeht.

 

Eine amtlich anerkannt Diagnose kann jeder Facharzt der Psychiatrie oder Neurologie stellen, aber welche Konsequenzen AS für das Leben des Betroffenen und seines unmittelbaren Um-feldes haben kann und vor allem, wie man damit umgeht, können nur einige wenige auf Autis-mus spezialisierte Psychologen und Psychotherapeuten ermessen. Das liegt daran, dass Psychologen und Psychiatern umfangreiche Methoden zur Verfügung stehen, um neurotypische Menschen zu therapieren, weil sie wissen, wie neurotypische Menschen „ticken“ und was man tun muss, um bestimmte Reaktionen auszulösen. Sie wissen jedoch in den seltensten Fällen (nur wenn sie sich darauf spezialisiert haben), wie ein Mensch mit Asperger-Syndrom „tickt“. Er unterscheidet sich in vielen Bereichen so gravierend von Neurotypischen, dass die klassischen Methoden der Psychologie auf ihn nicht anwendbar sind. Das ist jedoch den meisten Psychologen und Psychiatern nicht bewusst. Sie werden Gefahr laufen, Verhaltensauffälligkeiten, die durch das Asperger-Syndrom bedingt sind, anderen, vom Erscheinungsbild ähnlichen Krankheitsbildern zuzuordnen und dann die klassischen Methoden anwenden, um erfolgreich behandeln oder therapieren zu können. Geht man von falschen Voraussetzungen aus, in diesem Fall den Ursachen der Verhaltensauffälligkeiten, sind die Möglichkeiten, mit einer Behandlung oder Therapie Erfolg zu haben jedoch von vornherein sehr eingeschränkt.

 

Besonders häufig wird gerade bei Jungen, die eher aggressive  Reaktionen zweigen als Mädchen, AS in Kombination mit AD(H)S diagnostiziert. Vorweg sei gesagt, dass AS und AD(H)S rein physiologisch nichts miteinander zu tun haben. Dass ein Junge von beidem betroffen sein kann, ist etwa so wahrscheinlich wie die Möglichkeit, dass er Diabetiker ist und gleichzeitig eine Schilddrüsenüber oder -unterfunktion hat, sprich, es kann in seltenen Fällen durchaus vorkommen. Manche Psychiater stellen aber auffällig oft (z.T. sogar in fast jedem Fall), bei Jungen mit AS zusätzlich die Diagnose AD(H)S und behandeln dann (s.o.) vorrangig AD(H)S. Hierbei kommen nicht selten Präparate, die Methylphenidat und ähnliche, dem Betäubungsmittelgesetz unterliegende Wirkstoffe enthalten, zur Anwendung. Wenn das der Fall ist, sollten bei den Eltern alle Alarmglocken schellen, auch wenn der Junge mit dem Medikament besser zu handhaben ist als vorher.

 

 

Für einen Menschen mit Asperger-Syndrom stellt jede sozial/kommunikative Situation eine besondere Anforderung dar. Das hängt mit der rein rationalen Informationsverarbeitung und der erhöhten Sinneswahrnehmung zusammen. In diesen Situationen wird er sein gesamtes Leben lang unter Stress stehen. Wie groß der Stress ist, hängt davon ab, wie gut er gelernt hat, damit umzugehen. Das Erlernen von Kompensationsmechanismen spielt hierbei eine entscheidende Rolle. Das ist aber nur möglich, wenn er dosiert gezwungen ist, solche Situationen zu durchleben und mit ihnen umzugehen. Ist z. B. körperliche Nähe oder Berührung für einen Menschen mit AS ein Problem, muss er lernen, diese situationsange-messen (unauffällig) zu vermeiden oder, wenn dies nicht möglich ist, das damit verbundene unangenehme Empfinden (den Stress) durch den Einsatz von erlernten Kompensationsmechanismen zu minimieren (z. B. das unangenehme Empfinden abfließen lassen). Nimmt dieser Mensch nun ein Medikament, das verhindert, dass er die Situation als stressig empfindet, hat er keine Notwendigkeit, den Stress zu kompensieren, kann also nicht lernen, damit umzugehen. Menschen mit AS reagieren nicht eher gestresst (keine Überproduktion von Stresshormonen  -> keine Hyperaktivität) als andere, sie haben nur weit häufiger, wegen des Asperger-Syndroms, Anlass gestresst zu sein (angemessene Produktion von Stresshor-monen). 

 

  

Menschen mit Asperger-Syndrom verarbeiten Informationen fast ausschließlich rational und sind daher nicht multitaskingfähig. D. h. sie widmen ihre volle Aufmerksamkeit (Konzentration) ausschließlich einer Sache. Bei ihnen liegt also kein Aufmerksamkeitsdefizit (AD) vor. Sollen sie ihre Aufmerksamkeit einer anderen Sache zuwenden, müssen sie sich von der vor-herigen völlig abwenden. Es ist also schwierig, ihre Aufmerksamkeit auf etwas Neues zu len-ken, aber nicht, weil sie nicht genügend Aufmerksamkeit aufbringen können, sondern weil sie nur schwer loslassen können.

 

  

Kennt sich ein Psychiater mit diesen beiden Besonderheiten (größere Stress-anfälligkeit und rationale Informationsverarbeitung) des Asperger-Syndroms nicht aus, läuft er Gefahr, sie als Zeichen von AD(H)S zu verkennen und falsch zu therapieren, schlimmstenfalls durch Medikamentengabe.

 

Für viele Eltern, insbesondere aber Mütter, von Jungen mit AS stellt das aggressive Verhalten ihrer Kinder ein immer größeres Problem dar je älter und kräftiger diese werden. Medikamente mit dem Wirkstoff Methylphenidat u.ä. Wirkstoffen schaffen hier häufig Erleichterung für das Familienleben allgemein und auch im Umgang mit den Kindern, ja werden von diesen selbst häufig als Erleichterung empfunden. Aber letztendlich zahlen die Kinder dafür einen zu hohen Preis.

  

 

Dieser Preis kann zum einen die Gesundheit sein. Medikamente, die Methyl-phenidat u. ä. Wirkstoffe enthalten, sind sowohl bezüglich ihrer Wirksamkeit als auch ihrer schädlichen Nebenwirkungen äußerst umstritten und auch noch nicht weitreichend klinisch untersucht. Bei ihrer Anwendung ist selbst im Fall einer eindeutigen AD(H)S-Diagnose äußerste Vorsicht ge-boten und bei Vorliegen einer psychischen Erkrankung oder Entwicklungsstörung ist ganz davon abzusehen (siehe Beipackzettel z.Bsp. von Concerta, Equasym, Medikinet und Ritalin).

 

 

Der zweite Preis, den ein Asperger-Autist zahlt, ist die Einschränkung seiner Entwick-lungsmöglichkeiten. Die Medikation hindert ihn, Kompensations-mechanismen zu erlernen. Jedoch nur diese machen es ihm möglich, ein Leben innerhalb der Gesellschaft der Normalos zu führen und nicht am Rande oder völlig außerhalb.

 

Es liegt in der Verantwortung der Eltern zu entscheiden, ob ihr Kind den Preis bezahlen muss oder nicht. Diese Verantwortung kann nicht an den Facharzt abgegeben werden. Zweifel an der Kompetenz und dem Verantwortungsbewusstsein eines Arztes, der diese Medikamen-te einem Asperger-Autisten verschreibt, sind absolut berechtigt.

  

Die meisten Familien sind durch die Tatsache, dass eines, manchmal sogar mehrere Kinder vom Asperger-Syndrom betroffen sind, schwer belastet, nicht nur bezüglich der Situation innerhalb der Familie, sondern auch durch den Druck von außerhalb (Verwandtschaft, Freundeskreis, Wohnumfeld, Kindergarten, Schule). Endlich eine Diagnose zu haben, wirkt zunächst entlastend und befreiend, denn die Eltern fühlen sich nicht mehr so hilflos und können nun sich selbst und anderen erklären, warum ihr Kind anders ist. Erklären an sich kann nicht falsch sein, denn es kann dazu führen, verstanden zu werden. Man kann aber etwas erst richtig erklären, wenn man es selbst wirklich verstanden hat. Eltern sollten also von ihren Mitmenschen nicht zu viel erwarten, erst recht nicht, bevor sie sich selbst umfassend informiert haben.

  

 

Die erste Informationsquelle ist in der Regel der Facharzt, der die Diagnose gestellt hat. Er wird den Eltern wahrscheinlich auch Fachliteratur nennen, mit deren Hilfe sie sich dann ein Bild davon machen können, was es bedeutet, das Asperger-Syndrom zu haben. Auch das Internet kann ausgesprochen hilfreich sein.

 

Wie sind diese Informationsquellen zu bewerten?

  

Nur sehr wenige Fachärzte kennen sich wirklich mit AS aus (s.o.) Sie sind im besten Fall durch einschlägige Fachliteratur darüber informiert, seltenst können Sie auf eigene Erfahrungen mit AS zurückgreifen. Sie sollten also im Idealfall die Eltern an wirklich erfahrene Fachleute weiterverweisen (z. B. in Autismus-Therapiezentren). Ein guter, vertrauenswürdiger Arzt kennt seine Grenzen und ist bereit, wenn diese erreicht sind, den Patienten an den entsprechenden Fachmann zu überweisen. Die Doppeldiagnose AS und AD(H)S führt in der Regel dazu, dass von dem Facharzt, der die Diagnose gestellt hat, AD(H)S behandelt und AS aus dem Blick verloren wird. Einem Kenner von AS unterläuft dieser Fehler nicht.

  

 

Mittlerweile gibt es umfangreiche Literatur in Buchform und im Internet zum Thema Asperger-Syndrom. Die von Psychologen geschrieben Fachliteratur erhält ausführliche Informationen woran AS zu erkennen ist, wie es sich äußert und welche Folgen es für das Leben der Betrof-fenen haben kann. Häufig taucht der Begriff „Asperger-Spektrum“ auf. Er wird verwendet, um zu beschreiben, wie unterschiedlich stark Individuen von AS betroffen sein können. Daneben gibt es eine zunehmende Anzahl von Veröffentlichungen von Betroffenen selbst, die ihre persönlichen Erfahrungen mit AS schildern.

 

In vielem, was die Eltern lesen, werden sie ihr Kind wiederfinden. Das ist nur logisch, denn sonst wäre die Diagnose falsch. Manches wird aber auch nicht zutreffen. Das könnte man sich damit erklären, dass ein Kind mehr oder weniger stark von AS betroffen ist oder manches einfach noch nicht bei ihm zu beobachten war. Insgesamt entwickelt man ein Gesamtbild vom seinem Asperger-Kind, nach dem man seinen eigenen Umgang mit dem Kind richtet und das man auch nach außen hin vertritt. Dies wird als Signal verstanden, dass man akzeptiert hat, ein Kind mit dem Asperger-Syndrom zu haben.

 

 

Etwas zu akzeptieren ist sehr wichtig, denn es bedeutet, es anzunehmen. Es bedeutet nicht, es als schicksalhaft hinzunehmen.  

 

 

Der weitere Lebensweg von Kindern, bei denen das Asperger-Syndrom diagnostiziert wurde, hängt entscheidend davon ab, ob Eltern in ihrem Kind ein Asperger-Kind (hinnehmen) sehen oder ein Kind mit Asperger-Syndrom (annehmen).

 

 

Ein Asperger-Kind ist ein Kind, das bestimmte Auswirkungen von AS hat und aufgrund dieser Auswirkungen im Asperger-Spektrum als mehr oder weniger stark betroffen eingeordnet wird. An dieser Einordnung orientiert sich die weitere Verfah-rensweise mit dem Kind. Das bedeutet, man nimmt diese Einordnung als gegeben hin und versucht, das Beste aus diesem Zustand zu machen. Geht man von einem festgeschriebenen Zustand aus, ist es nur logisch, dass man daran nichts verändern kann, ihn also hinnehmen muss und lernen muss, für den Rest des Lebens damit umzugehen. Eltern, die ihr Kind als Asperger-Kind sehen (hinnehmen), hören auf, erziehende Eltern zu sein, sie sind nur noch betreuende Eltern und überlassen es in der Regel den Autismus-Fachleuten, ihr Kind zu einem gesellschaftsverträglichen Asperger-Autisten zu erziehen. Gelingt dies den Fachleuten nicht, gibt es diverse Institutionen (Sonder-/Förderkindergärten und -Schulen, betreutes Wohnen, Heime, Behindertenwerkstätten), die es solchen Menschen ermöglichen ein Leben neben der Gesellschaft zuführen.

 

Ein Kind mit Asperger-Syndrom ist ein Kind, dessen eine Persönlichkeits-Facette das Asperger-Syndrom ist, dessen andere Facetten sich aber überhaupt nicht von anderen Kindern gleichen Alters unterscheiden. Die Tatsache, dass es AS hat, ist unveränderlich, aber es ist auch ein Kind in der Entwicklung hin zum Erwachsenen. Es ist Aufgabe der Eltern, ihr Kind auf dem Weg zum Erwachsenen zu lenken und zu leiten, ihm das Rüstzeug mitzugeben, damit es sich zu einem selbstbewussten Menschen entwickelt, der sein  Leben selbst in die Hand nehmen kann. Selbstbewusst zu sein bedeutet, zu wissen, was man kann und was man nicht kann und sich danach zu richten. Was man kann, weiß man oft erst, wenn man es ausprobiert hat, also seine Grenzen ausgetestet hat.

  

In der Fachliteratur über das Asperger-Syndrom sind die Symptome von AS beschrieben und zwar möglichst umfangreich, vergleichbar einem Beipackzettel für ein Medikament, in dem alle bekannten Nebenwirkungen aufgelistet sind. In dem Beipackzettel ist aber auch zu lesen, welchen Wirkstoff das Medikament enthält und was genau dieser Wirkstoff bewirkt. In der psychologischen Fachliteratur über das Asperger-Syndrom wird man vergeblich danach suchen, was das Asperger-Syndrom ist, also z. Bsp. was bewirkt, dass ein Asperger-Autist Mimik und Gestik nicht intuitiv erkennen kann. Um die Ursachen von AS zu ergründen, muss man sich auf das Fachgebiet der Neurologie begeben, was an dieser Stelle zu weit führen würde. Jedoch ein Aspekt sei herausgegriffen. Das menschliche Gehirn ist sehr flexibel. Ist ein Ziel nicht auf dem einen Weg zu erreichen, findet sich ein anderer. Kann ein Asperger-Autist Mimik und Gestik nicht intuitiv erkennen, muss er es eben auf rationalem Weg tun. Geht man grundsätzlich davon aus, dass er es nicht kann, wird man nicht nach alternativen Wegen suchen.

  

 

Kinder mit Asperger-Syndrom sind genauso intelligent wie Normalos, d. h. ihnen steht das Werkzeug zur Verfügung andere Wege zu finden. Aufgabe der Eltern ist es, sie darin zu unterstützen, diese Werkzeuge zu gebrauchen, damit sie als Erwachsene selbständig damit umgehen können.

 

Wer andere Wege sucht oder gezwungen ist, andere Wege zu beschreiten, wird sich auch oft verlaufen. Normalo-Eltern können ihren Kindern mit ihrer Erfahrung auf den üblichen Wegen nicht weiterhelfen. Sie können nur versuchen, sich in die Situation ihrer Kinder hineinzuversetzen und dabei ist es sehr von Nutzen, wenn man sich mit den Ursachen befasst.

  

Eltern, die ihr Kind als Kind mit Asperger-Syndrom angenommen haben und sich dafür entschieden haben, erziehende Eltern zu bleiben, wählen den schweren Weg zum Wohl ihres Kindes. Sie werden nur wenige psychologische Fachleute finden, die sie auf diesem Weg unterstützen (können), aber viele die ihnen sagen, dass das der falsche Weg ist und sie es nur nicht wahrhaben wollen, dass ihr Kind nicht in der Lage ist, am Ziel anzukommen. Die Asperger-Autisten der vorangegangenen Generation, die ihren Platz in der Normalo-Gesellschaft gefunden haben, obwohl oder gerade weil sie als Asperger-Autisten nicht erkannt wurden, beweisen das Gegenteil.

  

 

Die Zahl der Eltern, die nicht hinnehmen sondern annehmen, dass sie ein Kind mit Asperger-Syndrom haben und den Kampf für ihr Kind aufnehmen, wird immer größer. Man führt also keinen einsamen Kampf mehr.

 

Zum Abschluss noch ein paar Tipps:

 

 

1.      Sie sind der einzige, wirkliche Fachmann für Ihr Kind. Die Erfahrungen, die Sie

         mit Ihrem Kind gemacht haben, hat kein anderer. Sie kennen es am besten.

2.      Glauben Sie nicht jedem, der einen Fachtitel hat und deswegen als Fachmann  

         gilt. Bleiben Sie immer kritisch und behalten Sie Ihre eigenen Erfahrungen im  

         Auge. Vorsicht bei Schubladen.

3.      Ihr Kind ist ein Kind, das Eltern braucht, die ihm die Chance auf ein selbst-

         bestimmtesLeben eröffnen. Wenn sie ihm nicht die Möglichkeit verschaffen  

         aus der Asperger- Schublade in die Normalo-Schublade zu wechseln, wer soll es  

            dann tun?

4.      Tauschen Sie ihre Erfahrungen mit anderen Eltern von Kindern mit AS aus.  

         Man kann nicht jede Erfahrung selbst machen, dafür reicht ein Leben nicht aus

         und andere haben auch gute Ideen.

5.      Vergleichen Sie Ihr Kind nicht mit anderen Kindern mit AS. Treten Sie nicht in  

         Konkurrenz. Es gibt keine besseren oder schlechteren Asperger-Autisten.  

         Hochbegabung (?) kann sehr hinderlich sein und von den wichtigen Dingen in  

         einem AS-Leben ablenken.

6.      In Ihrer Verwandtschaft gibt es vielleicht erwachsene Asperger-Autisten.  

         Fragen Sie, wie sie es geschafft haben, so zu leben, wie sie es tun und womit

         sie Probleme haben. Bitten Sie sie Mentor Ihres Kindes zu werden.

7.      Befassen Sie sich mit sich selbst. Lernen Sie, wie Normalos ticken, nur so  

         können SieIhrem Kind das Verhalten und die Welt der Normalos erklären.

8.      Bestehen Sie darauf, dass Ihr Kind einen Regelkindergarten und eine Regel-

         schule besucht. Es gibt keine Sonderkindergärten und -schulen für Asperger-

         Autisten. „Sonder…“ schadet Ihrem Kind.

9.      Lassen Sie sich nicht einreden, dass ihr Kind andere durch sein Anderssein

         belästigt. Ob sich jemand belästigt fühlt, liegt nicht an ihrem Kind, sondern an  

         demjenigen selbst. Menschen sind da ganz unterschiedlich empfindlich und  

         sie sollten an erster Stelle die Empfindungen ihres Kindes im Blick haben und

         sich nicht verpflichtet fühlen, Rücksicht auf die Empfindsamkeiten ihrer  

         Mitmenschen zu nehmen.

10.   Sie sind ein soziales Wesen, aber auch ein Individuum, das sich jeden Tag im  

        Spiegel ansehen können muss. Einen Platz in der Normalo-Gesellschaft zu  

        haben ist schön und erstrebenswert, aber man sollte immer im Auge behalten,

        welchen Preis man dafür zu zahlen bereit ist. Die Zukunft eines wertvollen  

        Menschen, Ihres Kindes?

11.   Man weiß nicht, wozu man fähig ist, wenn man nicht ab und an die eigenen  

       Grenzen überschreitet.

12.   Sie sind nicht alleine! Es gibt mehr Eltern, die in der gleichen Situation sind, als

        sie denken. Tauschen Sie sich mit ihnen aus, denn da werden Sie verstanden  

        und müssen nichts erklären.